Foto: Standbild aus dem Film „Unsere Inseln“.
Aus dem Buch:
Edition Esefeld & Traub
Herausgeber: Inci Suvak, Suleman Taufiq, 2017
Aus heiterem Himmel zitierte Hera Büyüktaşçıyan aus Heybeliada diesen Satz vor der Kamera als wir 2013 einen Film über die Prinzninseln drehten und traf die allgemeine Stimmung. Die Gezi-Revolte war gerade vorbei. Doch wie in vielen Stadtteilen Istanbuls fanden in jenem Sommer auch auf den Prinzeninseln mehrmals in der Woche abends weiterhin Bürgerforen statt.
Wir auf Burgazada sammelten uns immer vor der Anlegestelle. Ich ging oft gemeinsam mit unserer Putzfrau dorthin. Es herrschte pures Chaos, aber die Foren waren allemal spannend. Man lamentierte über nichtvorhandene Mülltrennung und Frauenrechte im gleichen Atemzug, kritisierte die Regierung, den spärlichen Schiffsfahrplan im Winter und das kaputte Ambulanzboot.
”Adalar” / ”Die Inseln” liegen 12 Seemeilen entfernt vom europäischen Istanbul im Marmara-Meer und sind eine Unterprovinz der Großmetropole mit offiziell sieben Tausend Einwohnern im Winter und gut Dutzend mal soviel im Sommer. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts lebten auf Kınalıada (Proti), Burgazada (Antigoni), Heybeliada (Halki) und Büyükada (Prinkipo) hauptsächlich Griechen, einfache Fischer. Ihr verschlafenes Antlitz änderte sich rasch nach der Einführung von regelmäßigen Fähren aus dem Festland. Die Reichen Istanbuls kreuzten dort auf, beträchtliche Villen wurden gebaut, die Inseln wurden bald zur Côte d’Azur des osmanischen Reiches. Zu den Reichen gehörten natürlich auch Geschäftsleute der Nichtmuslime. Die damaligen Sultane spendeten große Grundstücke z.B. an Armenier auf Kınalıada, an deutsche und österreichische Geschäftsleute und Kirchengemeinden auf Burgazada. Das ist heute noch spürbar. Man trifft Hürriyet lesende, akzentfrei Deutsch sprechende Passagiere auf der Morgenfähre in die Stadt - Nachfahren eingewanderter Untertanen des Kaiserreiches, die Bosporus-Germanen. Kınalıada wird in der Hochsaison heute sogar zur “heimlichen Hauptstadt Armeniens”. Die Mehrheit der Sommerurlauber auf Burgazada sind Sefarden, Nachfahren spanischer Juden. Sie flohen nach der Reconquista in das osmanische Reich. Aber als Trotsky vom Schiff im Bosporus aus Asyl in der republikanischen Türkei beantragte, wusste die Regierung erstmal nicht weiter. Der russische Oppositionelle erhielt schließlich vier Jahre lang ”Gastrecht” auf Büyükada, weit genug weg vom politischen Geschehen.
Vermutlich ist es die Nähe und gleichzeitig die Ferne der Inseln, die Istanbuler aller Couleur bis heute anzieht. Die gut einstündige Seefahrt zur Arbeit morgens vergeht mit der Aussicht auf den Abend auf der Insel wie im Flug. Auf der Rückfahrt wird am oberen Deck bereits heftig philosophiert. Selbsternannte “militante Insulaner” packen ihre Vorspeisen aus, die Rakiflasche wird heimlich herumgereicht, denn im Gegensatz zu früheren Zeiten gibt es nur noch Tee an der Schiffstheke. Auf der Insel angekommen, wird dann in multikultureller Trautheit erst richtig die Sau rausgelassen.
Ein Bildnis dieses Gemütszustandes ist sicherlich das unbekümmerte Lächeln des ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink, als er sich auf der Fähre mit Möwen im Hintergrund oder beim Angeln auf seinem Ruderboot fotografieren ließ. Hrant und seine Frau Rakel verbrachten ausnahmslos alle ihre Sommer auf Kınalıada. Auch Madame Martha, eine lokale Legende auf Burgazada, nach der inoffiziell eine malerische Bucht benannt wird, genoß die Freiheit der Insel in vollem Maße. Zum Entsetzen ihres Istanbuler Ehemannes zog es die armenische Amateurtänzerin aus guter Familie in Kairo vor, in besagter Bucht täglich nackt zu baden, sommers wie winters. Und die alewitischen Kutschenfahrer guckten verdutzt zu.
Die Alewiten wurden ab etwa Mitte des 20. Jahrhunderts überwiegend aus dem vom Erdbeben verwüsteten anatolischen Ort Erzincan auf die Inseln umgesiedelt. Aber anstatt die Inselgriechen zu vertreiben, wie die rassistische Politik der damaligen Regierungen es vorsah, bewunderten sie die Ureinwohner der Insel. Sie nahmen Sitten und Gebräuche der Griechen an. Unsere Putzfrau schwärmt heute noch von Madame Fanni, die ihr vor 40 Jahren das Kuchenbacken beibrachte, und auch das Essen mit Gabel und Messer. Bei dem grausamen Pogrom gegen Griechen und andere Nichtmuslime im September 1955 waren es die Aleviten von Burgazada, die ihre Nachbarn verteidigten. Sie wehrten als einzige in ganz Istanbul den Zutritt der Schiffsladungen voll von nationalistischen Horden auf ihre Insel ab.
Auf Burgazada leben heute im Winter ca. 700 Menschen - gut 500 davon sind Alewiten. Denn ab den 60ern mussten die Inselgriechen dann doch nach Griechenland ausreisen - ein für sie bis auf die Sprache fremdes Land. Nur eine Hand voll Familien blieb. Auch sie haben an den Foren 2013 teilgenommen. Die örtliche HDP wird heute von einer griechisch-armenischen Frau angeführt. Die pro-kurdische und minderheitenfreundliche Partei erhielt über 20 Prozent der Inselstimmen bei den letzten Wahlen 2015.
Aber Gezi ist nunmehr Geschichte. Ebenso das Philosophieren auf dem Schiff. Aufgrund von Bauarbeiten legen die Schiffe Richtung Insel jetzt von verschiedenen Anlegestellen am Festland ab. Man trifft sich nicht mehr. Der Journalist und Vorreiter der Foren in Kınalıada, Hayko Bağdat, ist jetzt im Exil in Deutschland. Ahmet Şık, der seine Sommerferien ebenfalls dort verbrachte, sitzt jetzt hinter Gittern. Man spricht nicht mehr. Die aktuelle Liste der politisch verfolgten und gedemütigten Insulaner ist lang. Die Trautheit ist nicht mehr vorhanden.
Wir waren während des Putschversuchs am 15. Juli 2016 nicht auf der Insel. Was wir jedoch zu hören bekamen, war erschreckend. Die ansonsten lebensfrohe Fahrkartenverkäuferin von der Anlegestelle rastete an jenem Abend aus und beschimpfte lautstark die jüdischen Sommerurlauber, ebenso der Besitzer der Dönerbude. Nach jenem Abend im letzten Sommer speisten nur noch Tagesausflügler in den Fischrestaurants am Wasser. Die Insulaner blieben lieber daheim.
Während wir 2013 den Inselfilm drehten, dachte ich, dass die Installationskünstlerin Hera das Titelzitat, welches diesen Artikel inspirierte, eigentlich erfunden hatte. Ich lag daneben. Es stammt aus einem Buch von Judith Schalansky. Darin schrieb sie über abgelegene Inseln dieser Erde, die sie jedoch nie besuchte oder besuchen dürfte, weil sie aus der ehemaligen DDR stammt.
Als jemand, der sowohl die Montagsdemonstrationen als auch die Gezi-Proteste hautnah erlebt hat, bleibt mir jetzt nichts anderes übrig als auf Schiffe zu hoffen, in denen Revolutionen stattfinden und auf Inseln, auf denen Utopien gelebt werden können.