Die Türkei in
Bewegung

DOKU-SERIE / 2008 / 7 X 35 MIN.

Kurdische Jugendlliche feiern am Tag der türkischen Republik in Van.
Foto: Gülşin Ketenci


Die Türkei ist ein Land der ständigen Fluktuation und Migration. Lediglich ein Viertel der Menschen lebt dort, wo sie geboren sind, so Bekir Ağırdır. In der Reihe, „Die Türkei in Bewegung“ werden er und andere Experten in einem Bus interviewt, der dabei non-stop durch Istanbuls Straßen fährt.

Die einen kommen in die Städte, Istanbul, Ankara, Izmir, Adana, Mersin und Antalya, um Arbeit zu finden, die anderen gehen nach Deutschland und leben dort mittlerweile in der vierten Generation. Arbeitsmigration gibt es nun auch in umgekehrter Richtung. Hunderttausende von Menschen aus benachbarten Ländern wie Georgien, Armenien, Rumänien oder Bulgarien, also teilweise aus EU-Mitgliedsländern, dienen überwiegend als private Krankenpfleger bis ihre Touristenvisa ablaufen. Dann kehren sie erst einmal nach Hause, um kurz danach erneut zur Arbeit einzureisen. Ohne die Saisonarbeit von Kurden auf den Feldern in westlichen Gebieten Anatoliens geht es nicht mehr. Neben der Arbeitsmigration gibt es die „Altersmigration“. Da die staatliche Rente für das teure Leben in der Großstadt kaum ausreicht, weichen Millionen von Rentnern in die kleinen Städte entlang der Ägäisküste oder dem Mittelmeer. Dort sind Lebensmittel noch erschwinglich und zudem noch frisch. Zur Zeit der Dreharbeiten für diese Serie waren die Küstenstädte der Türkei auch für deutsche Rentner finanziell sehr attraktiv. Die, die es sich leisten konnten, lebten in Bungalows und Kleinvillen für Sommerurlauber. Tausende von deutschen Staatsbürgern lebten als Dauergäste in Hotels, teils auch im Winter. Das ist immer noch billiger als Lebensunterhaltkosten in Deutschland.

Schon vor dem Krieg in Syrien war die Türkei Zwischenlandeplatz für Flüchtlinge aus Afrika und aus benachbarten Ländern, wie dem Iran, Afghanistan oder Irak.

Last but not least gibt es die Zwangsmigration. In den 60er und 70er Jahren wurden Zehntausende von Griechen, die in Istanbul und auf den ägäischen Inseln der Türkei lebten aufgrund von politischen Krisen zwischen Griechenland und der Türkei gezwungen, das Land zu verlassen. Diese Maßnahmen widersprachen internationalen Abkommen. Zwangsmigration fand auch statt als bei angeblichen militärischen Manövern gegen PKK-Guerillas Tausende von kurdischen Dörfern in den 90ern Jahren evakuiert und anschließend verbrannt wurden. Ihre Bewohner landeten an den Rändern der Städte im Osten und Westen des Landes.

Die politische Konjunktur in der Türkei zur Zeit der Serie im Jahre 2008 war anders als heute, im Jahr 2020. Die türkische Regierung steckte damals mitten in den Beitrittsverhandlungen mit der EU. Heute undenkbar konnte damals „Die Türkei in Bewegung“, die sich mit derart sensiblen Themen befasst, ohne Probleme zur Primetime gesendet werden. Hochgelobt von der Presse und in den sozialen Medien erhielt die Reihe hohe Einschaltquoten.

Die einzelnen Teile im Folgenden haben englische Untertitel.

BUCH UND REGIE

Nedim Hazar Bora

KAMERA

Bahattin Demir

AUFNAHMELEITUNG

Gülşin Ketenci

MUSIK

Yarinistan
Savaş Zurnacı
Murat Süngü

REDAKTION

Kemal Can

PRODUKTION

NTV

AUSSTRAHLUNG

NTV

SPONSOR

Heinrich Böll Sitftung - Türkei


Die einzelnen Teile

Prolog - Busreisende

Inspiriert vom 1961 produzierten türkischen Kultfilms „Busreisende“ besteht der Prolog der Dokureihe aus einer Busreise mit Experten und Ausschnitten aus den kommenden Folgen. Die Fahrgäste; Publizist Murat Belge, Autorin Latife Tekin, Bekir Ağırdır, Leiter eines Meinungsforschungsinstituts, der verstorbene Sozialwissenschaftler Prof. Ünsal Oskay und die damalige Direktorin der Türkeivertretung der Heinrich Böll Stiftung , Dr. Ulrike Dufner, diskutieren aktuelle Aspekte von Migration in, um und aus der Türkei. 

Ein Highlight dieser Folge ist die Geschichte einer fünffachen kurdischen Mutter, die jetzt am Rande Istanbuls lebt. Ihr Versuch scheiterte, zusammen mit ihren Kindern auf einem Flüchtlingsschiff nach Europa zu gelangen. Stattdessen freundete sie sich mit afrikanischen Weggefährten an, sie, die nie zuvor in ihrem Leben Schwarzen begegnet war.


Wege zum Broterwerb

Gedreht in Istanbul, in Düzce an der Schwarzmeerküste, im kurdischen Mardin, in ländlichen Gebieten um Ankara und schließlich in Bulgarien geht es in dieser Folge um Menschen, die sich auf der Suche nach dem Broterwerb auf die Reise begeben. Es handelt von kurdischen Saisonarbeiter*innen, Krankenpflegerinnen aus benachbarten Ländern und von jungen Männern aus dem Osten der Türkei, die unter lebensgefährlichen Bedingungen in Istanbuler Werften arbeiten. 

Das Drehteam trifft junge kurdische Frauen bei der Haselnussernte, die dem patriarchalischen Familiensystem gegenüber kritisch stehen, auf Krankenpfleger aus Georgien und Bulgarien, die zu Sklavenlöhnen arbeiten und deren Angehörige Zuhause selbst bettlägerig sind. Aufwühlend ist auch, wie junge kurdische Werftarbeiter, die das Team interviewte, am nächsten Tag vor laufender Kamera von Streitkräften verprügelt und verhaftet werden, da sie gegen Arbeitsunfälle in den Werften streiken wollten.


House of the Rising Sun

2008 war Alanya am Mittelmeer mit seinen Biergärten und Currywurstläden fest in deutscher Hand - nicht nur wegen der Sonne und dem Meer. Tausende von deutschen Rentnern lebten dort, oft für 9-10 Monate im Jahr. Nach einer kurzen Weihnachtspause in der Heimat kehrten sie wieder zurück, um vom freundlichen Hotelpersonal ganztätig bedient zu werden. Gebucht über Tourismusagenturen kostete damals eine Übernachtung mit Vollpension in Alanya etwa 10 Euro (also gerade einmal rund 300 Euro im Monat). 

Ähnlich geht es auch den einheimischen Rentnern. Das Leben in den großen Metropolen wie Istanbul und Ankara können sie sich nicht mehr leisten. Ältere Menschen in der Türkei wandern daher aus in die kleinen Küstenstädte, in die Dörfer von Bodrum oder Ayvalık. Oftmals handelt es sich um ehemalige Beamte oder Lehrer, also häufig kemalistisch geprägte Menschen, die die „alte“, westlich orientierte Türkei wiederhergestellt sehen möchten. Dabei geraten sie vor Ort in Konflikt mit kurdischen Migranten, die aus ganz anderen Gründen in dieselben Städte eingewandert waren.


Warte nicht auf mich

Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahr 1948 nur mit regionalem Vorbehalt unterschrieben. Deshalb gilt der internationale Flüchtlingsschutz dort nur für Europäer. Bedingt durch seine geographische Lage wurde das Land trotzdem schon lange vor der Syrienkrise mindestens zur Zwischenstation für hunderttausende von Flüchtlingen aus dem Iran, Irak, Afghanistan und aus afrikanischen Ländern. Die staatlichen Behörden duldeten nur den vorübergehenden Aufenthalt von Flüchtlingen, um die Weiterreise nach Kanada oder in europäische Länder zu beantragen. Auf ihrer Zwischenstation leben diese unter erbärmlichen Umständen, verteilt auf verschiedene Städte Anatoliens. 

Diese Folge fokussiert auf Menschen aus Afghanistan und dem Iran, die in ihren Herkunftsländern aufgrund von außerehelichen Beziehungen oder sexuellen Identitäten Repressionen ausgesetzt waren und in Van, im Osten der Türkei, gelandet sind. Ein Highlight in der Folge ist eine Hochzeit von einem gleichgeschlechtlichen Paar in einer ansonsten schwulenfeindlichen Umgebung. Ebenso handelt der Film von einer Heavy Metal Band aus Bagdad, die als Band mitsamt Familien in Istanbul gelandet ist. 

Anmerkung: Diese Reihe wurde einige Jahre vor dem Bürgerkrieg in Syrien gedreht. Im Jahr 2020 leben nun über drei Millionen Syrer in allen Landesteilen der Türkei.


Der König von Deutschland

Die in Istanbul lebende und in Deutschland aufgewachsene Schauspielerin von TV-Serien, Nursel Köse, äußerte sich in einem Interview abwertend über Castrop-Rauxel im Ruhrgebiet. Dies war Anlass, um zusammen mit Köse in diese Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets zu reisen. Dort treffen sie auf dessen Bürgermeister, der sich mit Köse versöhnt, auf ehemalige arbeitslose Bergarbeiter, die von der Solidarität unter Kumpeln unterschiedlicher Herkunft erzählen und auf ältere Moscheebesucher, die von ihrer Angst berichten, in Deutschland begraben zu werden. 

In Köln kommt Köse mit dem Rapper Eko Fresh zusammen. Aus Sicht der Menschen aus der Türkei ist sein Erfolg zwar etwas, worauf man stolz sein kann, doch seine Stücke wie das ironisch angelegte „König von Deutschland“ sind nicht nur sprachlich schwer zu verstehen. Schwerverständlich ist auch die letzte Szene im Istanbuler Generalkonsulat der Bundesrepublik, wo in Istanbul lebenden Deutsche und türkische „Rückkehrer“ aus Deutschland gemeinsam das Halbfinale des Europapokals zwischen Deutschland und der Türkei verfolgen. Am Ende singen dort Deutsche die türkische Nationalhymne und Türken schwenken die Deutschlandfahne.


Massenmigration, Massenträume

 1964, als Folge von staatlich veranlassten rassistischen Maßnahmen verließen knapp zehntausend Griechen die zur Türkei gehörende ägäische Insel Imroz. Jetzt wollen sie zurück und den Sommer in ihren eigenen Häusern verbringen. Doch in ihren Dörfern und Häusern leben jetzt zwangsmigrierte Familien aus dem kurdischen Osten. Angeblich um PKK-Guerillas zu besiegen, wurden in den 90er Jahren Tausende von kurdischen Dörfern zerstört. Die Bewohner dieser Dörfer sind nun zerstreut übers ganze Land, entwurzelt, ihre Traditionen wie arrangierte Ehen wirken grotesk in ihrer neuen Umgebung. 

Surreal wirken die neuen Häuser der Assyrer, die in den 70er und 80er Jahren aufgrund von staatlicher Schikane ihre Dörfer im Mardin im Südosten der Türkei verließen und in Länder wie Deutschland oder die Schweiz auswandern mussten. Die Assyrer sind Urchristen, sie sprechen Aramäisch, die Sprache von Jesus Christus, und sind tief verbunden mit Ihrer Heimat. In Europa haben sie sich zusammengetan, Geld gespart und bauen nun ihre zerstörten Dörfer und Häuser wieder auf - in einer selbst in der Schweiz oder in Deutschland nur selten anzutreffenden architektonischen Schönheit in einer ansonsten maroden Gegend.


Die Straßen von Istanbul

„Istanbuls Erde und Steine sind aus Gold“. So die wortwörtliche Übersetzung eines anatolischen Sprichworts. Der Traum vom besseren Leben war die Motivation für Millionen von Menschen, die aus den verschiedensten Regionen Anatoliens in die derzeit rund 16 Millionen Metropole (2020) kamen. Die wenigsten Menschen in Istanbul bezeichnen sich als Istanbuler. Istanbul ist auch die Stadt mit der größten kurdischen Bevölkerung. Industrie- und Dienstleistungsbranchen sind nach Regionen unterteilt: Umzugs- und Logistikfirmen werden von Menschen aus Kars betrieben; die meisten Bäcker stammen aus dem Schwarzmeer; die Neuankömmlinge arbeiten in Textilateliers unter erbärmlichen Bedingungen, vergleichbar mit der Textilbranche in Bangladesch. 

Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Konservativ Eingestellte treffen sich in den Vorhöfen der Moscheen zum gemeinsamen Gebet. Abertausende Muslime ziehen es vor, am Namenstag der Kirche ins Hagia Yorgo Kloster auf den Prinzen-Inseln zu pilgern. Barfuß klettert man den Berg hoch und wünscht sich Arbeit, Liebe oder den Hochschulabschluss des Sohnes.

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